Dienstag, 29. Mai 2012

Reisereportage Kopenhagen (Geo Saison 2010)

 

                  
LIEBESPERLE KOPENHAGEN


Wieso sie ihr Temperamentsbündel am Meer so hinreißend finden? Fünf Kopenhagener Informanten, hin und weg von ihrer Stadt, geben uns gute Gründe. Weil Anders’ Lieblingsdüne einen Metro-Anschluss hat. Weil Julia im Hafen baden kann. Und weil Gitte hier tollen Schmuck findet, extravagante Retro-Mode – und eine der besten Bars der Welt



Anders Trentemøller, 35
ist Komponist, Musiker ("The Trentemøller Chronicles“ Audiomatique) und international gefragter DJ und Remixer (u.a. für die Pet Shop Boys, Moby). Er lebt seit 15 Jahren in Kopenhagen


„Als ich sie als Kind zum ersten Mal sah, dachte ich: Das ist die Frau? Dafür die Aufregung?“ Anders Trentemøller, der mit seinen blonden Haaren und blauen Augen wie der Prototyp eines Dänen aussieht, grinst. Die Rede ist von der Meerjungfrau, für die Kopenhagen so berühmt ist wie Brüssel für das Manneken Piss. In der Tat ist die Bronzeskulptur, die Hans Christian Andersens Märchenheldin zu Ehren auf einem Granitstein im Hafenbecken sitzt, mit ihren 125 cm eher – nun ja – unscheinbar. Doch das hielt Anders nicht davon ab, nach der Schule aus seinem Heimatort Vordingborg („Da hat man zwei Möglichkeiten: eine Band gründen oder Fußballprofi werden.“) in die Hauptstadt zu ziehen, wo er nun seit 15 Jahren lebt. Sein Lieblingsplatz ist das Kødbyen im Szenedistrikt Vesterbro. Das Schlachterviertel – Kødbyen heißt „Fleischdorf“ – entwickelt sich nach Vorbild des New Yorker Meat Packing Districts zum Magneten für Musik, Kunst und Szene. „Alle wollen ja eine brummende Metropole. Aber sobald man ein bisschen Lärm macht, beschweren sich die Nachbarn. Hier gibt’s endlich ideale Bedingungen.“ schwärmt der Künstler. 


Die „Jolene Bar“, das Lokal zweier Isländerinnen, ist Anders’ Zweitdomizil: Hier verbreiten Couchtische vom Sperrmüll, eine Yamaha-Orgel an der Wand und Topfpflanzen das Flair eines studentischen Wohnzimmers. Er nimmt einen Schluck aus seiner Flasche Brooklyn Lager: „Abends wird das Jolene zum Club, von Indie Rock über HipHop bis Techno gibt’s einfach alles.“ 
In vielen der flachen schmucklosen Gebäude ringsum findet man weiterhin Fleischerei-Großbetriebe und auf dem Asphalt dazwischen parken tagsüber die Kühl-LKW. Doch spätnachmittags, so gegen fünf, trudeln die ersten jungen Hauptstädter auf ihren Rädern ein.
Wie Anders tragen sie Parka und Chucks und sitzen an Holzbänken in der Sonne, während sich Kunstfreunde im klassisch-eleganten Outfit nebenan im Restaurant-Bar-Galerie-Hybrid „Karriere“ zum Aperitif versammeln. Sobald die Lichter angehen, wird es dann laut. Events gelten als cool, wenn sie im Kødbyen stattfinden. Hier hat etwa Mode-Designer Mads Nørgaard, so etwas wie Dänemarks Antwort auf Calvin Klein, zwischen farbbespritzten Fliesen seine Kollektion „Copenhagen“ präsentiert – als Film-Trilogie, Anders Trentemøller lieferte den Soundtrack. 


Wenn die Sonne scheint und der Musiker sich nicht auf Tournee oder im Jolene befindet, ist die Chance groß, dass er vier Kilometer südöstlich Sand unter den Fußsohlen spürt: Der „Amager Strandpark“ lässt sich vom Zentrum aus in 15 Minuten erreichen. Per Rad – oder per Bahn. „Einen Strand mit Metro-Anschluss, welche Stadt hat das schon?“ findet Anders. Kopenhagens vollautomatische Metro samt ihrer schlicht-futuristischen Haltestellen gilt bereits als Design-Klassiker, entworfen von den italienischen Kreativen bei Guigaro Design, die schon den ersten VW Golf gestaltet haben. Dabei wurde die erste Metroverbindung erst 2002 in Betrieb genommen, die Linie Richtung Flughafen kam 2007 hinzu und deren drei Strand-Haltepunkte (siehe Infoteil) wurden sogar erst 2008 eingeweiht. Bis 2017 soll das Netz noch erweitert werden und täglich bis zu 275.000 Fahrgäste transportieren. Zum Vergleich: Das zentrale Stadtgebiet beherbergt rund 500.000 Einwohner.
Verlässt man die Metro in Strandnähe, sieht man schon von weitem zwischen den Dünen wie Raumfähren anmutende Gebilde aus Beton. Im Abstand von ein paar hundert Metern ist dort Nahrhaftes für Strandläufer erhältlich, von Eiscreme bis Sushi. Insbesondere „Nummer Drei“ in der Mitte ist zum Treffpunkt geworden: Hier tanzen die Hauptstädter Salsa, Jungs üben sich in Capoeira – und abends gibt’s auch mal eine Outdoor-House-Party. 


Wer nun aber statt Metro das Rad nimmt und auf dem Weg zum Strand wummernden Bässen folgt, dem kann es passieren, dass er früher abzweigt und landet, wo Spontan-Partys ebenfalls zur Tradition gehören. Da, wo der Stadtteil Christianshavn mit Kanälen und Fachwerk aufhört wie eine Filiale von Amsterdam auszusehen und das Viertel beginnt, das der niederländischen Kapitale eher im Geiste nahe steht: Christiania. 1971 wurde hier auf früherem Militärareal von Hippies ein selbst verwalteter Mini-Staat ausgerufen. Für die einen, zu denen auch Anders gehört, ist Christiania darum ein Refugium der Freiheit. Für andere eins der Zentren des Kopenhagener Drogenhandels. Für die dritten ein Gelände in Top-Lage, wo sich viel Geld mit Luxus-Apartments verdienen ließe, wenn bloß diese Ökos das Feld räumten... Gelegentliche Straßenkämpfe mit der Polizei gibt’s hier darum ebenso wie Konzerte und Meditations-Workshops in selbst geschreinerten bunten Holzhäusern an einem See, der mal Befestigungsgraben war. Erstklassige Bio-Restaurants locken LOHAs und Studenten, an der nächsten Ecke mischt sich Marihuana-Geruch mit der Meerbrise. Doch die Anarchisten-Siedlung scheint dem Untergang geweiht. „Es ist eine Tragödie.“ findet Anders. „Die Stadt will sich Christiania einverleiben.“ Dann wird er vehement: „Wenn es eins gibt, was man in Kopenhagen nicht versäumen darf, dann ist das, Christiania anzuschauen – solange es noch geht.“ 


Gitte Jakobsen, 34
ist gebürtige Kopenhagenerin, Kinderkrankenschwester – und hat wie ihr Landsmann Lars von Trier einen Hang zum Mysteriösen

Gitte Jakobsen ist Kinderkrankenschwester in Kopenhagens größtem Krankenhaus, dem Rigs Hospital. Und es ist auch das berühmteste, seit Regisseur Lars von Trier hier zu Beginn der 90er seine Gänsehaut-TV-Serie „Hospital der Geister“ drehte. „Im Keller, wo die meisten der gruseligen Szenen spielen, bin ich täglich.“ sagt sie mit leicht ironischem Lächeln.„Es gibt Leute, die tatsächlich glauben, dass es bei uns Gespenster gibt. Da unten ist es wirklich unheimlich mit den langen Gängen und Lüftungsschächten. Aber manchmal geh ich sogar extra nachts hinunter, wenn es ganz leer ist. Ich mag die surreale Atmosphäre.“ Während sie das so erzählt, wirkt die Dunkelhaarige selbst wie die Heldin eines Mystery-Thrillers. Ist ihre Schicht tagsüber beendet, entspannt sie gern im Fælledpark direkt neben dem Hospital: „Den benutze ich als Garten. Kopenhagen hat so viele tolle Parks, da braucht man nicht mal ‘nen Balkon.“ Aber an ihren freien Tagen, und das passt nun wieder zu ihrer mysteriösen Ader, sonnt sie sich auch gern auf dem „Assistens Kirkegård“, Kopenhagens größtem Friedhof, auf dem Hans Christian Andersen und Søren Kirkegaard begraben sind. Der liegt ebenfalls nur fünf Fahrradminuten westlich vom Rigs Hospital entfernt. Und was in Deutschland undenkbar wäre – Picknick und Ping Pong zwischen Grabsteinen – ist hier nicht nur für unerschrockene Krankenschwestern ganz normal. 


„Ich reise viel und habe mal sechs Monate in Sydney gearbeitet.“ sagt Gitte, „Doch Kopenhagen ist schwer zu schlagen. Außerdem gibt’s hier die besten Männer: Die sehen gut aus, und es steckt auch was dahinter. In Sydney hatten die Jungs immer das Surfboard unterm Arm, Salzwasser im Haar – das war’s.“ Die schmucken Kerle besichtigt Gitte meist in Nørrebro, wo sie lebt. Das Viertel ist eins der so genannten „Brückenquartiere“ Østerbro, Nørrebro, Vesterbro und Amagerbro – „Bro“ bedeutetet „Brücke“ – die den Stadtkern wie ein Reif umgeben. Während aber zum Beispiel Østerbro eher ein ruhiges Wohnviertel für Besserverdiener ist, teilen sich das direkt daneben liegende Nørrebro Zuwanderer, Studenten, Kreative und weltoffene Leute wie Gitte. Türkische Gemüseläden und Geschäfte, in denen es – beispielsweise – Burkas aller Ausführungen gibt, wechseln sich ab mit angesagten Bars, Restaurants und Läden mit der Mode lokaler Designer. Alles ist hier tendenziell etwas günstiger als in Restkopenhagen. 


Gittes Lieblingslokal ist das „Plenum“ am weitläufigen Platz Sankt Hans-Torv. Denn das ist je nach Tageszeit und Krankenhausschicht nutzbar als Frühstückscafé, Lunchrestaurant oder Cocktailbar. „Sehr entspannt. Und lecker!“ Hellbrauner Backstein geht über in verputzte Wände, auf die Sprüche berühmter Menschen gepinselt sind. Stanley Kubrick wird ebenso zitiert wie Rosa Luxemburg. Bei Beatles-Sound sitzen die Gäste an alten Holzkisten und beschäftigen sich entweder mit Freunden oder dem mitgebrachten Laptop – kostenloses W-LAN gibt’s zum Cappuccino dazu. Gitte würde hier wohl noch viel öfter viel länger sitzen, läge nicht direkt um die Ecke in der Elmegade ihr persönliches Shoppingparadies aus vielen kleinen Souterrainläden. Auch jetzt muss sie „nur mal schnell gucken.“ Ihr favorisierter Schmuckladen, das „Cappalis“, ist montags geschlossen, darum geht es direkt weiter zu „Foxy Lady“. Parkett, Kronleuchter und roter Teppich sorgen für Atmosphäre. Gittes Wahl fällt auf eine leuchtend rote Jacke mit Gürtel, die im „Juice“ noch durch ein Paar Lederhandschuhe im Sonderangebot ergänzt wird. Und dann muss sie auch schon los – schlafen! Es ist zwar erst sechs Uhr abends, aber Nachtdienste, insbesondere solche mit Extra-Ausflügen in unheimliche Katakomben, fordern ihren Tribut. 




Kristian Ditlev Jensen, 39
ist Genießer, Schriftsteller (aktueller auf deutsch erschienener Roman „Von japanischen Brotbüchsen, indischen Göttern, komischen Alpendialekten, süßen Südstaaten, afrikanischen Kriechtieren und der Köstlichkeit des langsamen Reisens“ Hoffmann + Campe). Jensen arbeitet derzeit an seinem neuen Roman – und für das dänische Klimaministerium als Redenschreiber


In jeder Metropole gibt es diese Inseln. Orte, die manchmal mitten im Zentrum liegen und die trotzdem von den Haupt-Besucherströmen umflossen werden als seien sie nahezu unsichtbar. Das „Café Europa“ ist so ein Ort. Hier, im Herzen Kopenhagens am Hojbroplads, sitzen die Angestellten der umliegenden Geschäfte in ihrer Kaffeepause und Journalisten lesen beim Espresso in aller Ruhe ihre Tageszeitung. Die offenkundig Reisenden dagegen, also jene mit den wetterfesten bunten Jacken, Rucksäcken und Fotoapparaten, schieben sich eher vom Rathausplatz ausgehend durch die Fußgängerzone, den Strøget, um sich anschließend geradeaus im „Café Norden“ zu sammeln wie in einem Auffangbecken. Das liegt zwar direkt gegenüber dem Europa, aber die Trägheit der Masse lässt offenbar die kleine Rechtsbiegung nicht zu. Schriftsteller Kristian Ditlev Jensen liebt das Europa. Das Café trägt den Zusatz „1989“ im Namen – das Jahr des Mauerfalls, das Gründungsjahr des Cafés. „Da vorn hängt auch ein Stück Berliner Mauer.“ Kristian, der heute schreibzunftgerecht ein schwarzes Hemd zum Cordjackett mit Lederschonern am Ellbogen trägt, deutet vorbei an der Vitrine mit den in Trinkgläsern gebackenen Schichtkuchen und der geschwungenen schwarzen Bar. Dorthin, wo eine Bilderwand internationalen und dänischen Berühmtheiten Respekt zollt: von Hans Christian Andersen bis Willy Brandt. 


„Der Kaffee hier ist der beste in ganz Kopenhagen.“ erklärt der Autor. „Früher hat hier der World Champion der Espresso-Zubereitung gearbeitet, Martin Hildebrandt. Der ist jetzt nicht mehr Barista, sondern Manager, aber die Jungs und Mädels sind trotzdem gut.“ Bevor er anfing Bücher zu schreiben, war Kristian zunächst Film-Kritiker und dann Kaffee-Reporter für die Berlingske Tiden, eine von Dänemarks großen Tageszeitungen. „Ich wollte da Food-Redakteur werden und hatte gehofft, mich so an den Job ranpirschen zu können.“ Hat nicht geklappt. Zum Glück! Denn um sich den Traum doch irgendwie zu erfüllen, schrieb Jensen seinen auch auf deutsch erschienen Debütroman „Leibspeise“. Darin darf der Food-Journalist Robin McCoy das beruflich machen, was für Kristian Privatvergnügen ist: Schlemmen. Außer im Europa macht Kristian – dem man seine Liebe zum Genuss ein bisschen an den Körpermaßen ansieht – das besonders gern im Tivoli. Also jenem Kopenhagener Vergnügungspark, der 1843 vom damaligen Monarchen mit den Worten „wer sich amüsiert, politisiert nicht“ genehmigt wurde. Und für den die inzwischen demokratisch-parlamentarische Monarchie Dänemark – heißt: es gibt ein Parlament, aber das letzte Wort hat immer noch Königin Margarethe II. – auch heute noch so berühmt ist wie für ihr Design. 


Lange schien er auf dem absteigenden Ast zu sein, aber seit einigen Jahren erstrahlt der Tivoli in neuem Glanz. Wo Farbe abblätterte, wurde gestrichen, jeden Freitag gibt’s nun hochkarätige Pop-Konzerte und selbst ein Restaurant mit Michelin-Stern kann man inzwischen vorweisen, das „The Paul“. Das von Kristian bevorzugte „Grøften“ allerdings ist, wie es schon immer war: Über den Köpfen schweben Miniaturballons, eine Erinnerung daran, dass aus dieser Senke – „Grøften“ heißt “der Graben“ – vor 100 Jahren Heißluftballons starteten. Wer sich hier an den Tischen mit rosa-weiß kariertem Tuch niederlässt, trinkt große Humpen dänischen Biers und isst Smørrebrød-Kreationen, die Namen tragen wie Dyrlægens Natmad – das Nachtmahl des Tierarzts. Ein Brot, das unter anderem mit Leberpastete und einem rustikalen Rechteck aus gelierter Bouillon belegt ist. „ Hier ist es sehr folkelig.“ sagt Kristian, hier ist jeder gleich. „Prominente kommen ebenso her wie Familien beim Sonntagausflug.“ Die besten Smørrebrød indes, verrät der Schriftsteller, gibt es nicht im Tivoli, sondern in einem traditionell dänischen Ecklokal zwei Straßen weiter. Dass das ausgerechnet „Tivoli Hallen“ heißt, kann schon mal zu Verwirrung führen.


Julia Calmann, 30
ist Make-up-Artistin für Dänemarks größte Model-Agentur „Scoop“. Sie hat bei ihren Jobs schon viel von der Welt gesehen. Aber Kopenhagen mag sie am liebsten


Wenn Julia Calmann ausspannen will, nimmt sie ihr Rad und fährt hinunter nach Islands Brygge, dem Stadtteil südwestlich des Hafens. Dort biegt sie an der Langebro, der „langen Brücke“, rechts ab und radelt vorbei an den Spontanpartys tanzender Teenies, vorbei an verliebten Pärchen auf dem Holzsteg, vorbei an den Outdoor-Jazz-Konzerten im Kulturhuset. Sie lässt den umgedrehten alten Kahn auf Stelzen links liegen, der heute Besuchern als Sonnendach dient, die den spektakulären Blick auf die Skyline genießen möchten. Sie radelt bis ganz ans Ende der Grünanlage Bryggensgård. Dort wirft sie ihr Rad auf den Rasen, nimmt Anlauf und springt einfach rein. Mitten ins Hafenbecken. Kopfüber. „Ich mag es nicht, langsam ins Wasser zu klettern. Das muss schnell gehen. Alle meine Freunde machen das so.“ Weiter vorn, direkt an der Langebro, gibt es auch ein offizielles Schwimmbad, das Københavns Havnebad, auch das liegt im – überraschenderweise – recht sauberen Hafenwasser. Aber das ist was für Touristen und Weicheier. Findet Julia, die auch mit ihrem gekonnten Mix aus 70er und 80er-Retro-Mode beweist, dass sie Mut zum Aus-der-Rolle-Fallen hat. Außerdem hat das Bad nicht immer geöffnet, wenn sie frei hat – als Make-up-Artistin für Kopenhagens größte Modelagentur „Scoop“ hat sie zum Teil verrückte Arbeitszeiten. Mode-Shootings oder Werbedreharbeiten richten sich nun mal nach Licht und Wetter. 


„Ich bin viel in Europa herumgekommen, war in Barcelona und Berlin und Paris, aber Kopenhagen im Sommer ist einfach die wundervollste Stadt.“ sagt sie. „Überall ist Wasser und Wind.“ Später, wenn sie sich trocken gerubbelt hat und der Hunger sich meldet, den man nun mal bekommt vom Schwimmen – dann radelt sie wieder quer durch die Stadt, Richtung Norden. Kopenhagen ist zwar ohne Zweifel eine Metropole, aber dennoch so klein, dass man fast alles mit dem Rad erreichen kann. Das Gebiet der „Kommune København“ umfasst 88 Quadratkilometer – und ist damit sogar 11 Quadratkilometer kleiner als die Fläche Sylts. 
Nach einer Viertelstunde erreicht Julia das „Republic Blegdammens Stjerne“ in Nørrebro, direkt gegenüber des Rigs Hospital, in dem Gitte arbeitet und sie selbst geboren wurde. Von außen sieht das Restaurant mit dem großen roten Stern auf der Markise aus wie fast jedes Café, aber innen scheint das Licht eine Patina zu bekommen: Cremeweiße Möbel von denen ein pittoreskes bisschen die Farbe abblättert, an der hinteren Wand sogar eine alte Kirchenbank. Gestärkte weiße Tischdecken. Roter Teppich. An goldgetönten Wänden prangt ein getrockneter Lavendelstrauß, ein namenloses Plattencover oder ein alter Kofferanhänger. Und hinter der Theke hängt eine alte Kopenhagen-Karte von 1910. „Das ist ein Ort fürs Herz.“ meint Julia, „für romantische Dates. Hier gibt’s außerdem die beste Crème Brulée! Und erst der Salat mit gebackenem Ziegenkäse. Ach, und hatte ich erwähnt, dass man hier exzellente Weine bekommt?“ Bisher nicht – aber man glaubt es aufs Wort.




Kirsten Holm, 49 
wurde zwar in Bangkok geboren, weil ihr Vater dort fürs dänische Außenministerium arbeitete, aber seit ihrem neunten Lebensjahr lebt sie in Kopenhagen. Sie gilt als eine der besten Barfrauen und ihre „K-Bar“ als eine der besten Bars - der Welt


Im Zentrum der Galaxie herrscht Ruhe. Jedenfalls in der Galaxie namens „K-Bar“ handelt: Im afrikanischen Blumenkleid steht das „K“ alias Chefin Kirsten Holm da und lässt vorsichtig Ingredienzien in ein Glas rinnen. Dann fügt sie Kräuter hinzu als handele es sich um einen Zaubertrank, bevor sie den Pear & Cardamom Sidecar mit souveräner Handgelenk-Drehung vor dem Gast landen lässt. Vorbei an der Orchidee auf der Bar, hinweg über ein Meer aus Flaschen mit unzähligen trinkbaren Preziosen aus aller Welt. Unberührt davon, dass sich um sie herum alles im Chaos befindet: Aufgekratzt, angeheitert und samstagabendschön drängt sich die In-Crowd Kopenhagens in Kirstens kleiner Bar am Kanal „Ved Stranden“, insgeheim froh nicht von dem blonden Türsteher ausgesiebt worden zu sein, der problemlos als Armani-Model durchginge. Kürzlich hat eine Reporterin herausgefunden, dass Kirsten nicht nur zu den besten Barchefs der Welt zählt – sondern die einzige Frau auf ihrem Niveau ist. Als sie die 47jährige damit konfrontierte, war die ebenso geschmeichelt wie überrascht. „Klar, ich hab ein paar Preise gewonnen, aber Wettbewerbe halten einen nur von der Arbeit ab.“ 


Viel lieber möchte Kirsten Neues erfinden. Dafür reist sie um die Welt, das ist die Tochter eines Außenministeriums-Mitarbeiters seit frühester Kindheit gewohnt. Kirsten fliegt mal eben nach New York, Paris oder, wie jüngst, nach Reykjavik so wie andere einen Ausflug in den Stadtpark machen. Sie liest Bücher, besucht Lokale der Konkurrenz, aber auch Ausstellungen, Museen. Mit den mehr als 60 Museen Kopenhagens hat sie da auch daheim eine reiche Auswahl. „Was ich sehe und erlebe, beeinflusst meine Arbeit.“ sagt sie. Derzeit interessiert sie die Molecular Mixology, bei der mit Zutaten experimentiert wird als seien sie Substanzen aus einem Chemiebaukasten. Heraus kommt dann schon mal eine schaumförmige Piña Colada oder Drinks, in denen wie flüssige Bonbons Bläschen mit Pfefferminzsirup schwimmen. Holm ist sich nicht sicher, was sie davon halten soll. „Ich will ja keine prätentiösen Mode-Drinks mit Gimmicks anbieten, sondern richtig gute!“ 


Diese Einstellung brachte ihr Anfang der 90er ihren vorherigen Job als Barchefin im „Royal“ ein, dem ersten Design-Hotel der Welt. Das liegt mitten im Herzen der dänischen Hauptstadt, je zwei Minuten zu Fuß von Rathaus, Tivoli und Bahnhof entfernt und wurde 1960 von der Wendeltreppe bis zum Zahnputzbecher von Arne Jacobsen gestaltet. „Die Vorhänge! Der Schreibtisch!“ Kirsten bemüht sich gar nicht erst, ihre Begeisterung zu verbergen, als sie in Zimmer 606 steht, mit seinem Atem beraubendem Blick über Kopenhagen. Man erwartet fast, dass jeden Moment der junge Connery mit Bondgirls im Arm zur Tür hereinspaziert und den türkisfarbenen Vorhang vor dem Doppelbett zur Seite zieht... Während in den übrigen Zimmern zeitgenössisches Design Einzug gehalten hat, hat man hier alles so gelassen, wie es war: Ei- und Schwan-Sessel, Aschenbecher, Teppich, Schreibtisch, Badewanne, alles vom Meister persönlich entworfen. Dazu rattert, davor sei jeder potenzielle Gast gewarnt, ebenfalls die ohrenbetäubende Original-Klimaanlage. 


Auch im gut hundert Meter entfernten „Nimb“ wird Kirsten mit Bussi Bussi empfangen. Sommelier Jacob Kocemba ist ein Freund von ihr und verantwortlich für den Weinkeller mit 1134 Weinen, den man mit der schweren Holztür und dem Backsteinfußboden auch gut in der Provence vermuten könnte. Jedes Zimmer des Nimb ist mit Antiquitäten eingerichtet und alle – bis auf die Nummer 14 – haben einen offenen Kamin. Die Neueröffnung des Luxus-Palasts am Rande des Tivoli ist nach Komplettumbau zwei Jahre her. Man setzt auf exklusive Geschmackserlebnisse: Mit eigener Meierei, Chocolaterie, mehreren Restaurants und Bistros. Auf der Straßenseite gibt’s sogar eine Nobel-Würstchen-Bude. Da werden die „Pølser“, die berühmten dänischen Wurstbrötchen, aus Entenbrust zubereitet und mit Rosmarin und Dijon-Senf serviert. „Ich mag das Nimb, denn ich bin nun mal ein alter Snob.“ kommentiert Kirsten verschmitzt. 


Vom Hauptbahnhof gegenüber erreicht man in gut zehn Minuten per S-Bahn Valby am Stadtrand. Auf den ersten Blick wirkt es, als gäbe es hier nichts außer Wohnblocks und Industrieanlagen. Doch wer sich Zeit nimmt, die Eingangsschilder zu studieren, entdeckt, dass sich in vielen der ehemaligen Industriegebäude inzwischen Galerien eingenistet haben. Wie die von Helene Nyborg. Wenn Kirsten Zeit hat, kommt sie hierher. Auch jetzt vertieft sie sich fasziniert in die Exponate, ebenso federleichte wie komplizierte Scherenschnitt-Konstruktionen des Künstlers Peter Callesen. Wer weiß, vielleicht gibt es demnächst in der K-Bar einen neuen Cocktail. Federleicht, aber kompliziert in der Zubereitung. 





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