Montag, 28. Mai 2012

Porträt Juli Zeh (Allegra 2001)

SIE KANN SICH EINFACH NICHT ENTSCHEIDEN*


*Das Gute daran ist: Von dieser Unentschlossenheit wird die Autorin Juli Zeh getrieben. Wie sonst sind drei Uniabschlüsse, eine amtliche Essaypreissammlung und nun ein Debütroman zu erklären?  



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Sommer 1993. Ein Campingplatz irgendwo im Süden Japans. Zwei junge Europäerinnen schlagen ihr Zelt auf. Der Platz ist wie ausgestorben. Und der Taxifahrer gerade ist mit quietschenden Reifen wieder abgefahren. Warum wohl der Sprecher im Radio eben diese eine Durchsage ständig wiederholt hat? Doch weil die Reisenden kein Japanisch können, jung sind und die Welt nur kommen soll, denken sie sich nichts dabei. Windig hier draußen. Man könnte sogar von Sturm sprechen. Die zwei packen – vorsichtshalber - ihre Pässe in die Hosentaschen, wichtige Sachen in die Rucksäcke und die Rucksäcke auf den Rücken. Wenig später klammern sie sich an einen Baum. Der Taifun, vor dem der Radiosprecher gewarnt hatte, schnappt sich das Zelt. Die Frauen beten. Acht Stunden lang.


Sommer 2001. Es war warm in Leipzig in den letzten Tagen. In Juli Zehs riesiger Altbau-Küche segeln dicke schwarze Flocken durch die Luft. Vorbei am Lemonbabies-„Porn“-Plakat und dem Tisch mit einem Durcheinander aus Kerzen, Tabak, Zeitungen, Reiseführern über Kroatien und der Erstfassung von Julis soeben erschienenem Debütroman Adler und Engel. Juli hockt in Jeans und T-Shirt barfuß auf dem Fußboden. In der einen Hand hält sie eine Kaffeetasse, die sie mit einer selbst gedrehten Zigarette abwechselt, in der anderen eine Schermaschine. Hund Othello, acht, eine Mixtur aus Riesenschnauzer und Unschuldslamm, bekommt seine Sommerfrisur. „Wenn ich mit ihm fertig bin“ sagt sie, „sieht er aus wie ein Zierfisch. Vorn und hinten Wuschel, in der Mitte nichts.“ Im Moment wirkt er allerdings eher wie ein schwarzer Flokati, der zur Hälfte einem Rasenmäher zum Opfer gefallen ist.
 Während Juli also schert und trinkt und raucht, alles gleichzeitig, erzählt sie. Von Japan, damals, kurz nach dem Abi. „Klingt richtig lustig heute, oder?“ Ihre selbst gestaltete Frisur - irgendwo zwischen Prinz Eisenherz und Charlotte Roche  - umkränzt dekorativ ein breites Grinsen. Dann nimmt Juli einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette und ihre blauen Augen werden ganz schmal und grinsen mit. „Aber damals, als wir an diesem Baum hingen, haben wir gedacht: Das war’s.“ Sich selbst in Situationen zu bringen, die neu sind und aufregend, dabei ab und zu auch mal lebensgefährlich, darin ist Juli Zeh perfekt. Herausforderungen sind dazu da, dass man sie annimmt. Wird schon gut gehen.

 Juli Zeh ist, seit dem 30. Juni – ausgerechnet Juni  - 27 Jahre alt. Sie hat in ihrem Leben bis jetzt eine Menge Herausforderungen angenommen. Meistens ein paar gleichzeitig. Darum hat sie in einem Alter, in dem andere Leute vielleicht gerade mal ihr Erststudium beenden, drei Uniabschlüsse in der Tasche. Der Reihe nach: Das beste Staatsexamen Sachsens in Jura. Ein Diplom in Literarischem Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig – wegen des Instituts ist die Bonnerin auch vor sechs Jahren nach Leipzig gekommen. Und dazu noch einen Magister in einem Aufbaustudiengang zu Internationalem Recht. Als wäre das nicht schon mehr als andere in fünfzig Jahren erreichen, sammelt sie nebenbei Essaypreise wie andere Robbie-Williams-CDs. Und dann ist da natürlich der Roman. „Ich kann mich schlecht entscheiden,“ sagt sie lapidar dazu „und dann mache ich alles auf einmal."
Was ich mich immer gefragt habe, sagt Clara bei Nürnberg, ist, wie man dazu kommt, sich für ein Jurastudium zu entscheiden. (...) Ich bin kein typisches Beispiel, sage ich. Ich habe mir einfach das Studium ausgesucht, das ich mir am wenigsten zutraute.

 Jura jedenfalls hat Juli schon immer interessiert. Ihr Vater, selber Jurist, arbeitet in Berlin am Bundestag. Und, wer weiß, vielleicht  hat sein Versuch, der Tochter das Studium auszureden, für die den Ausschlag zum Anfangen gegeben. Die meint allerdings: „Er wollte nur testen, ob ich wirklich will.“ Ob sie wirklich schreiben will, musste niemand testen. So etwas steht auch für Eltern außer Frage, wenn die Tochter die ersten Erzählungen mit zwölf fertig hat.
 Das letzte Wort zu Adler und Engel hat Juli vor etwa einem Jahr geschrieben. Adler und Engel ist eine Geschichte um den Ich-Erzähler Max. Max ist – wen wundert’s – Anwalt. Er wird am Telefon Zeuge des Selbstmordes seiner Freundin. Er resigniert, beschließt, auf sein Ende zu warten, das er mittels Drogenkonsum beschleunigen will. Doch die Radiomoderatorin Clara, in deren Sendung er angerufen hat, entführt ihn von Leipzig nach Wien, wo er früher gelebt hat. Clara zwingt ihn, seine Vergangenheit aufzurollen. Nach und nach stellt sich heraus, dass Max‘ Leben und seine Liebe zutiefst verstrickt sind mit den Kriegen in Bosnien, politischen Entscheidungen und einer internationalen Drogenbande. Schriftsteller Burkhard Spinnen war Julis Lektor und bescheinigt ihr im Klappentext ein „furioses“ Debüt. Sicher ist: Die Geschichte ist fesselnd und phantastisch geschrieben. So eindringlich, dass man beim Lesen zu Schwitzen beginnt, weil es im Buch ständig wahnsinnig heiß ist.
 Wir prallten gegen die Hitze wie gegen einen unsichtbaren Abwehrschirm. Die Stadt wollte nicht betreten werden. (...)Die Stille war absurd für das Zentrum einer Großstadt, wie auf freiem Feld, nur ohne Grillen.

 Othello ist fertig frisiert. Lag er eben noch reglos wie ein müder Käfer auf dem Rücken, rast er jetzt wie ein wild gewordener Staubsauger kreuz und quer durch die Küche und reibt sich am rauen Teppichboden, einem grauen Relikt aus DDR-Zeiten. Der Juckreiz nach der Rasur ist der Preis für ein heißes Leben an der Seite seines Frauchens. Das verbringt den Sommer mit Vorliebe in Städten, die dafür bekannt sind, dass sich die Straßen dort zwischen Juni und September in gigantische Grills verwandeln. Wien etwa, lange Zeit Julis erklärter Lieblingsfleck auf dieser Erde. Dort hat sie in Kaffeehäusern gekellnert. Und natürlich geschrieben. In New York hat sie später ein Praktikum bei der UNO gemacht . Ein Vierteljahr lebte sie darum in dieser Stadt, die viele für die aufregendste der Welt halten. Frau Zeh blieb unbeeindruckt: „Nach einer Woche habe ich mich gelangweilt.“ Dafür nutzte  sie ihre intimen Kenntnisse für den Roman: „Ich habe die New Yorker UNO nach Wien transportiert.“ Ein Teil der Handlung spielt in der Wiener UNO-City. Juli: „Und da war ich noch nie drin.“
Ich fuhr mit der U-Bahn in den Zweiundzwanzigsten Bezirk und rannte eine halbe Stunde lang über die dicken Teppichböden auf den Korridoren von Block B, (...)

 Viel interessanter als die Welt westlich des Atlantiks findet Juli alles im Osten. „Mein Ostfieber“ nennt sie das. Ihren Roman hat sie in Krakau vollendet. Dort war sie für ein Jura-Auslandssemester  hingegangen. Selbstverständlich ohne ein Wort Polnisch zu sprechen. Sonst wäre das mit der Herausforderung ja nichts geworden. Als sie beim Vermieter ihres Zimmers vorstellig wurde, machte der sie zwischen Tür und Angel mit seinem Sohn bekannt. „Eine merkwürdige Szene. Wir haben uns umständlich im Treppenhaus über das Geländer hinweg die Hand gegeben.“ So fangen in Romanen Liebesgeschichten an. Oder im Leben von Romanschriftstellerinnen. Woitek, so der Name des Herrn, taucht fortan immer wieder in Julis Domizil auf. Und weil der junge Mann neben seinem Job als Produktionsmanager für Film und TV auch noch fotografiert – das Autorenfoto hinten auf dem Roman stammt von ihm – ist Juli bald in der Lage auf polnisch über die Lichtverhältnisse auf einem Foto zu reden. „Aber in der Bäckerei stand ich da und konnte keine Brötchen bestellen.“ Für Woitek  wirft sie ihre siebenjährige Beziehung „in Sekunden“ über Bord. Und bleibt nach Semesterende einfach länger in Krakau. Weil da die Liebe hingefallen ist. Die größte Herausforderung vielleicht.
Max, sagte er, liebe sie. Lass sie nie etwas anderes spüren. Zu Herbert und mir wird sie nicht zurückkommen.

  Wenn man Juli Zeh etwas erzählt, kann es sein, dass sie plötzlich einen Notizblock zückt und sagt: „Moment, muss ich aufschreiben.“ Solche Notizen verarbeitet sie später in ihren Texten. Und wenn man ihr – zum Beispiel - von einer heimlichen Liebschaft  erzählt und sie dann bittet, das nicht zu verwenden? Sie feixt: „Dann sollte man es lieber nicht erzählen.“ Genau darum lesen sich ihre Szenen so authentisch. Und Authentizität ist Juli wichtig. Im Roman kommen fast ausschließlich reale Orte vor. Selbst eine Shell-Tankstelle an der Protagonist Max nachts ein Eis kauft. Die liegt gleich um die Ecke von Julis früherer Wohnung. Direkt neben monströsen Fernwärmerohren, über deren Krümmungen er einmal nachgrübelt.  Auch das in den Holzfußboden gesägte Loch, in dem Juli als Kind Manuskripte vor ihrer sehr interessierten Mutter – einer Übersetzerin - versteckt hat, taucht auf. Dazu eine Handvoll Ereignisse, die irgendwer irgendwann mal erlebt hat, ein Schuss Insider-Wissen aus dem Jura-Milieu und eine Prise Charakterzüge echter Personen. Alles angerichtet mit  Phantasie.
Die Straßenbahnen winden sich, von innen erleuchtet, zwischen den Häuserreihen hindurch. Vielleicht habe ich geschlafen, bäuchlings auf  der Fensterbank.

 Für die nächste Zeit hat Juli Zeh schon mal ein paar Herausforderungen zusammengetragen. Eine Promotion ist angedacht: „Die Magisterarbeit ließe sich vielleicht ausweiten dazu.“ Ihr nächster Roman auch: „Eine Geschichte über dieses Phänomen meiner Generation, in der zurzeit alle ständig reisen. Ich habe Freunde in Prag, Amsterdam, Barcelona, Wien...“ Dann noch ein literarischer Reiseführer über den Balkan. Dort war sie zu Recherchen gerade unterwegs: „Das gibt’s nämlich noch nicht, so was.“ Aber erst mal muss sie nach Breslau, wo Woitek inzwischen des Berufs wegen hingezogen ist. Danach nach Warschau wegen einer Buchmesse. Dazwischen noch nach München. Dann steht das Jura-Referendariat an. Und die Freunde wollen auch besucht sein. Wer Juli Zeh kennt, weiß: Sie wird sich nicht  für eins dieser Dinge entscheiden. Sondern für alle.
 Wir nehmen die Straßenbahn. Ich kaufe Fahrscheine für uns und den Hund, obwohl Clara sich halb totlacht darüber. Schwarzfahren überstieg schon immer meine Nervenkraft.

  Sommer 2001. Der wunderbare Satz „Zum Halten bitte Fahrgastwunsch betätigen“ steht  von innen über der Tür der Leipziger Straßenbahn. Von außen versprach die Beschriftung „Ticket-Automat  im Wagen“. Eine junge Frau steht nervös mit einem großen Hund, der wie ein Zierfisch aussieht – vorn und hinten Wuschel, in der Mitte nichts –vor dem Automaten im Wagen, der nur Geldkarten nimmt. Sie hat keine Geldkarte, wer hat so was schon? Und Schwarzfahren ist nun wirklich die einzige Herausforderung, die sie nicht gerne annimmt.

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